1. November 2022 um 05:55 Uhr / Lesedauer: 5 Minuten / Von Matthias Grass

Kleve. Roland van Gisteren stellt die Frau vor, die vorgab, Anna von Cleve zu sein und so manchen Hof in deutschen Landen monatelang narrte. Erst unter Folter offenbarte sie in Sachsen ihr Geheimnis.

Anna von Cleve hatte eine Doppelgängerin, die nach dem Tod Annas 1557 durch die deutschen Lande reiste und versuchte, aus ihrer Ähnlichkeit mit der Königin Kapital zu schlagen. Die „Mittvierzigerin“, so Roland van Gisteren, sieht aus wie Anna von Cleve und gibt vor, die quicklebendige Königin zu sein, die gar nicht verstorben sei. Van Gisteren hat die Geschichte der Frau, die vorgibt, Anna zu sein, jetzt nochmals aufleben lassen, nachdem sie im 19. Jahrhundert schon ausführlich beleuchtet wurde und wieder in Vergessenheit geriet.

Zu der Geschichte dieser „Schattenfrau“, wie van Gisteren sie nennt, hat er zwei Bände herausgegeben, die jetzt im Buchhandel zu haben sind: „Die Schattenfrau. Die geheimnisvolle Doppelgängerin der Anna von Cleve“ (19.95 Euro, ISBN 978-3-00-072635-4) und als Nachdruck eines 19.-Jahrhundert-Dramas „Anna von Cleve oder die Gürtelmagd der Königin“ von E. Meruell (Elisabeth Müller. ISBN 978-3-00-072752-8, 14.95). Es sind die vorab erschienenen Bände, die vor dem Hauptband über Anna von Cleve herausgekommen sind. Letzterer soll kommendes Jahr erscheinen und mit vielem aufräumen, was bislang zur Geschichte der wahren Anna von Kleve als gesetzt galt. Das verspricht jedenfalls Roland van Gisteren, der sich als Autor Roland Norget nennt – zum Andenken an seine Klever Großmutter Berta.

Der 72-Jährige  ist von Haus aus Betriebswirt und bezeichnet sich als „Pensionär und Amateur Historicus“. Als solcher hat er sich durch die deutschen und englischen Archive gewühlt – eine Forschung, an deren Ende eine Buch-Troligie um Anna von Cleve und ihr Umfeld stehen soll, die von Christoph Frauenlob designt wurde.

Doch wer ist diese Schattenfrau? Johann Friedrich II. (der Mittlere) von Sachsen war wohl ein gutgläubiger Mensch: Als er von einer Reise aus Weimar zurückkam, fand er zwei – auch noch recht unleserliche – Briefe vor: geschrieben von einer Dame, die ihm eine schier unglaubliche Geschichte auftischte. Sie erzählte vom Kerker, von einer totgesagten Königin, die aber lebe. Von der gelungenen Flucht, indem sie sich vom Kerker mit einem Seil herabgelassen habe und dann mit dem Schiff entkommen sei. Und die Totgesagte sei keine geringere als des Herzogs von Sachsen Tante, Anna von Cleve, Königin von England.

Als der der Herzog die Dame dann 1558 in Sachsen empfangen konnte, soll sie Anna von Cleve tatsächlich sehr ähnlich gesehen haben – wie aus dem Gesicht geschnitten, heißt es. Und sie hatte auch das Handsiegel der Königin dabei. Johann glaubte, seine Tante vor sich zu haben. Nahm sie auf und wurde bald eines besseren belehrt: Er saß einer Betrügerin auf. Der Herzog von Jülich bestand auf ihrer Verhaftung, widerlegte nach und nach ihre Lügengeschichten und beim „siebten scharfen Verhör“ auf der Streckbank gestand sie: Sie sei eine Tochter des Herzogs von Cleve und einer Nonne aus dem Kloster Essen, Margarete von Schenk. Sie sei dann nach England gekommen. Aber auch das ließ der Herzog von Jülich nicht gelten: Sein Vater habe nur zwei uneheliche Töchter gehabt, die eine sei tot und die andere im Kloster.

Wie auch immer: Man zeigte sich in Sachsen gnädig mit der Frau, sie blieb in Haft, man ließ ihr Bücher, sie bekam sonntags Braten und Wein, und ob sie in der Feste gestorben ist oder später entkommen konnte – man weiß es nicht. „Wahrscheinlich war sie wirklich eine Tochter des Herzogs von Johann von Cleve und in Diensten der Königin Anna. Mit dem Handsiegel und anderen Kleinodien, die sie vielleicht nach deren Tode an sich nahm, mochte sie durch irgend einen abenteuerlichen Betrüger sich habe verleiten lassen, eine Rolle zu übernehmen, die es doch unmöglich war, auf die Länge durchzuführen“, schreibt Louise Otto-Peters in ihrem bei Heinrich Matthes erschienen Bändchen über „Merkwürdige und geheimnisvolle Frauen“. Mit anderen Worten: Damit ist die Geschichte eigentlich auserzählt. Das war 1868.

Eine andere Quelle berichtet über in „Curiositäten der physisch, literarisch, artistisch, historischen Vor und Mitwelt zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser. 1812“ über besagte Frau, die sich als Königin von England ausgab. Es sind etliche, die im 19. Jahrhundert die Geschicke dieser Anna Johanna erzählen, die van Gisteren jetzt ins 21. Jahrhundert geholt und in seinem Band „Die Schattenfrau“ als Kopien versammelt hat.

Es habe  nochmals gut 140 Jahre gedauert, bevor er als Herausgeber einen neuen Anlauf zur Animation der einzigartigen Geschichte  der Anna von Cleve und ihrer Schattenfrau oder Gürtelmagd (beides meint hier wohl letztlich die Kammerzofe) unternimmt, schreibt er im Geleitwort zu dem Band, der in erster Linie eben Quellensammlung ist. Wobei, so räumt van Gisteren bei der Vorstellung des Bandes ein, die tatsächliche Quelle, nämlich die Akte zu dem sächsischen Vorfall, den Lauf der Geschichte nicht überlebt hat: Die Akte ist abhanden gekommen. Man erachtete die Schattenfrau als nicht so wichtig. Ihre Geschichte findet sich eben nur noch in Nacherzählungen über die Kuriositäten aus vergangenen Tagen.

Parallel zur „Schattenfrau“ hat van Gisteren das Drama in fünf Aufzügen, „Anna von Cleve oder die Gürtelmagd der Königin“ von E. Meruell aus dem Jahr 1881 im Nachdruck herausgegeben: Hier schickt Anna dann ihre Halbschwester – Walburga heißt sie in dem Manuskript – an ihrer Stelle nach England und sie begleitet sie als Gürtelmagd. Bei Meruell wäre dann die Betrügerin Anna tatsächlich die echte Anna …